In diesem Jahr musste ich mir einen Rollstuhl vom DRK ausleihen, um teilnehmen zu können.
Normalerweise komme ich mit den Krücken zurecht - mein Fuß heilt ja nun schon lange genug vor sich hin - aber mehr als 300m am Stück ist zuviel.
Geschoben von meinem Schatz kam ich mir gleichzeitig königlich vor und fühlte mich liebevoll umsorgt, während andererseits ein Gefühl von Unselbstständigkeit nicht ausblieb.
Jedenfalls war alles noch mal extra Abenteuer. Immerhin war ja auch talk like a pirat day, Arrr.
Leinen los und ab ins stürmische Gewässer!
Schon auf dem Weg vom Hauptbahnhof zum Platz vor dem Bundeskanzleramt kamen wir, inzwischen zu viert, an einem aufgemalten Gruß der Gegendemo vorbei:
"
My vagina my choice."
Sehr richtig. Wenn man sorgfältig auswählt, wen man wann an seine Vagina lässt, wird man auch nicht ungeplant schwanger. Immer noch das beste Mittel zur Vermeidung von Konfliken, die zu Abtreibung führen könnten.
Ich persönlich halte das ja für einen echten running Gag, dass die Gegendemonstranten beim Marsch für das Leben offenbar so schlecht darüber informiert sind, wofür eigentlich der Marsch für das Leben steht und voll an der Sache vorbei argumentieren. Wie sagten sie so schön?
An einer inhaltlichen Auseinandersetzung sind wir nicht interessiert. Merkt man.
Wobei man sich ja sowieso fragen kann, ob die eigentlich überhaupt bedenken, was sie da brüllen. Doch dazu später.
Voererst veranlassten mich diese Betrachtungen zu dem Kalauer, zur Vermeidung der ungewollten Passage eines ungeplanten Kindes durch die Vagina (wir erinnern uns; "My vagina my choice"), würde sich doch ein Kaiserschnitt eignen.
Immerhin kommt das tote Kind nach einer Abtreibung auch durch selbige raus, es ist also zur Wahrung der Rechte der eigenen Vagina keine geeignete Methode.
Am Platz vor dem Bundeskanzleramt wurden mein Schatz und ich durch die Absperrung auf einen Stelle direkt vorne, rechts von der Bühne, gewinkt.
Bloggerprominenz mit Rollifahrerin im Gepäck: da muss man nicht erst das Deck schrubben.
Die Stimmung war gut, als wir ankamen gab es gerade eine Darbietung des
Chors Kunterbunt, ein Behindertenprojekt der Berliner Stadtmission.
Auf einigen Plakaten las man '
Inklusion statt Selektion'.
Andere zeigten Abbildungen von Kleinkindern mit Down-Syndrom oder einfach Familienszenen. Zu lesen war außerdem
'Kinder sind keine Ware',
'Willkommenskultur auch für Babys',
'Echte Männer stehen zu ihrem Kind',
'Kein Tod auf Rezept' und noch viele weitere Sprüche.
Die
Rede Martin Lohmanns (hier das Video von 2014) machte deutlich, dass es um die Würde des Menschen geht und um den Respekt vor dem Menschen mit seinen Bedürfnissen, aber auch mit seiner Verantwortung.
In jedem Stadium des Lebens, ob vor der Geburt oder in Krankheit und Alter sagen wir: "Ja zu mehr Hilfe für's Leben".
In diesem Jahr betonte Martin Lohmann besonders, dass es sich um ein Ansinnen handelt, das universell ist und wendete sich damit direkt gegen die Deutung des Marsches für das Leben als Aktion "fundamentalistischer Christen" und/oder "Nazis". Wir brauchen keine Ideologie, wir sind keine Extremisten.
Man muss sich eigentlich nur mal das
Handout zum Marsch für das Leben durchlesen, um zu sehen, dass es hier weder um die Favorisierung eines bestimmten Familienbildes noch um die Ächtung sexueller Freiheiten geht. Vielmehr ist das Kind im Mutterleib zu schützen, indem man der Mutter die
Hilfe und
Aufklärung zukommen lässt, die sie braucht, um auch schwierige Situationen durchzustehen. Wie es zu der (unerwarteten) Schwangerschaft gekommen ist, ist dabei nicht relevant und wird keiner Wertung unterzogen.
Und, anders als unsere Gegner, haben wir die Erkenntnisse moderner Medizin auf dem Schirm:
Nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht neues menschliches Leben. Vom ersten Augenblick an ist der Chromosomensatz, 46XY/XX, vollständig und einzigartig. Haar- und Augenfarbe sind, wie viele andere Anlagen auch, bereits festgelegt, ebenso das Geschlecht. Ab der dritten Woche sind alle Organe angelegt, nur kurze Zeit später ist beim werdenden Kind Schmerzempfinden vorhanden und das Herz beginnt zu schlagen.
Der Mensch ist Mensch, von Anfang an.
Natürlich kann ein Embryo sich nicht äußern. Aber das kann ein Baby zunächst auch nur sehr eingeschränkt und auch ein dementer Mensch kann die Fähigkeit dazu verlieren.
Wir lassen uns den schwarzen Peter nicht zuspielen. Wir sind nicht die Bösen. Wir sind gegen niemanden - übrigens auch nicht gegen Frauen, die abgetrieben haben:
Angebote zur Hilfe bei Problemen nach einer Abtreibung (Post Abortion Syndrom) gibt es außerhalb von Lebensschutzverbänden überhaupt nicht.
Es geht darum, Abtreibungen zu verhindern. Nicht darum, Menschen zu be- oder verurteilen.
Zum Abschluss folgte die Mahnung, sich nicht provozieren zu lassen.
Der Marsch für das Leben ist einerseits eine Gedenkveranstaltung für vor der Geburt getötete Kinder (
deshalb tragen wir Kreuze!), andererseits möchte er auf die Thematik aufmerksam machen.
Dabei geht es letztlich darum, dass die Tötung eines Menschen - egal in welcher Verkleidung sie daherkommt - niemals zu rechtfertigen ist.
Aus diesem Grund sind Abtreibungsgegner auch gegen Sterbehilfe, die letztlich eine Wiederkehr von Euthanasie darstellt oder dem zumindest den Weg bereitet.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle der Bericht eines Betroffenen. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch ist er ausdrücklich froh, zu leben und berichtete in einem kleinen Auftritt, dass viele Menschen mit denen er ins Gespräch kam, weil sie ebenfalls einen Sebstmordversuch überlebt hatten, das genau so sehen.
Fröhlich setzten wir uns in Bewegung.
Ich war zufrieden, dass mein Fuß inzwischen schmerzfrei und auch nicht mehr übermäßig empfindlich ist.
Das Laufen in der Menge hätte ich frisch operiert schon allein wegen der Nerven nicht ausgehalten: Auf dem Weg zu einer Kontrolluntersuchung, noch im Krankenhaus, war ich in totale Panik geraten, wenn irgendein Hindernis meinem Rollstuhl oder Fuß auch nur nahe kam. Und mit nahe meine ich an dieser Stelle 'unter 2m Abstand'.
Zunächst begegneten wir nur vereinzelten Krakeelern, Grüppchen von 5 bis 20 Leuten, die ihre Parolen brüllten und schnell passiert waren.
Irgendwer skandierte seinen Hass auf homophobe.
"Was haben die eigentlich für Probleme?
Nur weil ich gegen Abtreibung bin, bin ich noch lange nicht homophob." "Doch," weiß mein Schatz, "wer gegen Abtreibung ist, ist automatisch homophob. Aber sag's nicht deiner Mutter."
Logik-fail.
Ich meine, schon allein das: Würden Schwangere die ihr Kind nicht wollen so begleitet, dass sie es zur Adoption freigeben, anstatt es abzutreiben, wäre die Familiengründung doch auch für homosexuelle Paare viel einfacher. Immerhin bleiben, speziell
wenn man in-vitro-Fertillisation und Leihmutterschaft kritisch sieht, außer einer Adoption kaum Alternativen.
Unter den Linden kam der Marsch das erste Mal zum Stehen, links und rechts an der Kreuzung laute Gegendemonstranten.
"
Are we the baddies?" mimte mein Schatz verschmitzt.
Well, I can't see any skulls here, can you?
"Wir tragen doch nur Bilder mit Kindern drauf..."
Ganz ehrlich, wenn ich Gegendemonstrant wäre, wäre es mir peinlich, gegen wen ich da anbrülle. Eine Gruppe von Menschen mit bunten Plakaten und weißen Kreuzen, eine schweigende und teilweise singende Gruppe, eine Gruppe die sich vollkommen friedlich durch die Stadt bewegt, normal gekleidet; niemand vermummt, kein einziger Springerstiefel weit und breit, dafür junge Leute, Behinderte, viele Familien mit Kindern und Geistliche... Ich würde mich spätestens nach 10 Minuten nach Hause schleichen und hoffen, dass mich niemand gesehen hat, wie ich da die personifizierte Harmlosigkeit anbrülle.
Es ging weiter, jemand stimmte ein Lied an, wir kamen wieder zum Stehen, erfuhren, dass es Sitzblockaden gibt, die den Marsch aufhalten.
"Wir sind ein Castortransport", feixte ich.
Ich wusste ja schon immer, dass ich eine ganz besondere Ausstrahlung habe.
Am Straßenrand war eine mit Trommeln ausgestattete Gruppe von Gegendemonstranten. Die Rhythmen gingen mir durchaus in die Beine - wenn ich könnte würde ich zu sowas immer tanzen.
Die Sprüche zeigten sich weniger eingängig:
Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat.
Nun ja. Schon klar, dass die all das blöd finden. Nur irgendwie... Man muss nicht gläubig sein, um das menschliche Leben zu respektieren. Und auch mit Patriarchat hat das nichts zu tun. Der Schutz ungeborenen Lebens kann in einer patriarchalen Gesellschaft genau so schief gehen oder eben funktionieren wie in einer matriarchalen oder gleichbereichtigten. Glaubt es oder nicht; durch welche Strukturen gewährleistet wird, dass Frauen in Konfliktschwangerschaften so betreut werden, dass sie das Kind - bei Bedarf anonym und geschützt - zur Welt bringen können, ist mir egal.
Eure Kinder werden so wie wir, eure Kinder werden alle queer.
Warum auch nicht? In diesem Fall könnten sie bestimmt davon profitieren, dass ihre Großmutter in einer lesbischen Beziehung lebt. Sicherlich werden sie so oder so ihre Kämpfe mit dem modernen 'jeder darf alles immer und sofort'- Ethos haben, der den Umgang mit der menschlichen Sexualität zur Zeit bestimmt.
Gegen Macker und Rassisten, fight the power, fight the system!
Bin ich voll dafür.
Ich bin eindeutig gegen jede Form von Rassismus. Und gegen Macker sowieso. Aber was wollen die dann von uns? Also hier im Marsch sind keine Vertreter der aufgezählten Personengruppen... Habt ihr euch in der Adresse geirrt?
Christen, lasst das beten sein, zieht euch Emma Goldmann rein.
Wieso? Man kann doch das eine tun und das andere nicht lassen. Wie wäre es z.B. mit folgendem Zitat:
"The ultimate end of all revolutionary social change is to establish the sanctity of human life, the dignity of man, the right of every human being to dignity and well-being." Dem stimme ich zu. Wieso seit ihr der Meinung, dass diese Aussage nicht für ungeborene Kinder gilt?
Emma Goldmann übrigens nennt die Fähigkeit, einem Kind das Leben zu schenken, das großartigste Privileg der Frau.
Ebendiesen Essay, "Das Tragische an der Emanzipation der Frau", schließt sie mit einem Aufruf der ebenfalls meine volle Zustimmung findet:
"Soll die teilweise Emanzipation tatsächlich zu vollständiger und
reiner Emanzipation werden, so muß aufgeräumt werden mit der
lächerlichen Vorstellung, geliebt zu werden, Geliebte und Mutter zu
sein, sei gleichbedeutend mit Sklave und Untertan zu sein. Es muß
aufgeräumt werden mit der absurden Vorstellung des Dualismus der
Geschlechter oder daß Mann und Frau Vertreter zweier feindlicher Lager
seien.
Kleinlichkeit spaltet, Großzügigkeit verbindet. Laßt uns groß und
großzügig sein. Laßt uns über all das Triviale das Wesentliche nicht
aus den Augen verlieren. In der echten Beziehung zwischen Mann und Frau
wird es keinen Sieger und keinen Besiegten geben sondern nur eines:
immer wieder zu geben, um dadurch bereichert zu werden, tiefer empfinden
zu können und gütiger zu werden. Dies allein kann die Leere ausfüllen,
kann das Tragische an der Emanzipation der Frau ersetzen durch Glück,
grenzenloses Glück."
Leute, lasst das Brüllen sein, zieht euch Emma Goldmann rein!
Schließlich geht es weiter.
Auf Höhe des Bebelplatzes treffen wir die größte Masse der Gegendemonstranten. Hasserfüllt schleudert man uns die bekannten Parolen entgegen.
Wir sind am Ende des Zuges und in einer Randposition, die ein Untertauchen in der Menge unserer Mitstreiter unmöglich macht; zumal man sich im Rollstuhl eben auch nicht mal schnell in ein Gruppe reinschieben kann. Ich finde das, so vom Sitzen aus betrachtet, durchaus beängstigend.
Vor mir werden Bannerträger angegeifert: "
Euer Plakat kotzt mich sowas von an! Ihr seid zum Kotzen!" Darauf steht: "
Willkommenskultur auch für Babys!"
Immer wieder hört man "
Haut ab!" (Wir wären schon längst weg, wenn da nicht gewisse Sitzblockaden gewesen wären.) Und "
Kein Vergeben und Vergessen, Christen haben Namen und Adressen!"
Das Gesicht einer Frau ist so verzerrt von Hass, dass es sie wirklich zur unkenntlichen Fratze verstellt.
Um Himmels Willen, seht ihr denn nicht gegen wen ihr da anbrüllt? Denke ich nur halb bewusst aber sehr erschrocken.
Nein, sie wollen es nicht sehen.
Denn sonst müssten sie sich ja schämen und das ist nicht gut für's Ego.
Außerdem will so ein Feindbild gepflegt werden. Gerade, wenn man Christen auf dem Schirm hat, sind eben größere Anstrengungen nötig, um nicht mitzubekommen, dass das größtenteils ganz passable Leute sind, und gar keine
baddies.