Freitag, 16. Oktober 2015

Macht die Schubladen bunter!

Schubladendenken ist eine menschliche Grundkonstante.

Unser Gehirn sortiert Informationen, versieht sie mit Etiketten, unter denen sie schneller abgerufen werden können, clustert sie zu Wissensfeldern. Was zu bereits vorhandenen Informationen passt, können wir uns besser merken, ebenso wie Dinge, die mit einem besonderen Ereignis oder mit starken Gefühlen zu tun haben.
Das Ziel unserer Gedächtnisbildung besteht schließlich nicht darin, uns zu einem wandelnden Lexikon zu machen, sondern in der Lebensfähigkeit. Ich zum Beispiel konnte mir Telefonnummern früher leicht merken. Jetzt geht das gar nicht mehr - ist ja eh alles im Handy gespeichert also wozu auch?

Es ist also prinzipiell so, dass jeder seine eigene Real-life-Filterbubble konstruiert. Ganz natürlich.
Auch Menschen, die uns begegnen, ordnen wir in bestimmter Weise ein. Kollege, Vorgesetzter, Freund, Familie, oder die neue Eroberung meines besten Kumpels? Wir erwarten von Menschen Eigenschaften, die zu dem Umfeld passen in dem sie uns begegnen.
Der erste Eindruck zählt.
Dieses Sprichwort zeugt davon, dass uns sehr wohl bewusst ist, wie schnell andere uns in Schubladen stecken und wie schwer es ist, aus so einer Schublade wieder herauszukommen, wenn man einmal drin gelandet ist.
Der erste Eindruck trügt.
Der sprichwörtliche Gegenpart dazu zeigt, dass auch die Fehleranfälligkeit unserer Schubladensortierung keine unbekannte Erfahrung ist.

Ja, auch ich passe in Schubladen. Und zwar eigentlich nicht in weniger, als man denkt, sondern in mehr davon.
Ich bin ein sehr offener Mensch und komme gerne mit anderen ins Gespräch, wobei ich oft recht viel von mir preisgebe. - Die Vertrauensselig-Schublade und die Guter-Kumpel-Schublade.
Ich kann aber auch recht unsicher sein und bin manchmal unbeholfen und verhuscht, manchmal träume ich einfach nur... - die Unhöflich-Schublade, vielleicht sogar eine Eingebildet-Schublade - und das bin ich nun wirklich nicht, ich bin für jeden Scheiß zu haben! Achja, das wäre dann die Mit-der-kann-mann's-ja-machen-Schublade. Aber die Kumpel-Schublade wird von dieser Eigenschaft auch gefüttert und auch die Auf-die-kann-man-sich-verlassen-Schublade.
Ich bin hilfsbereit (Helfersyndrom-Schublade trifft auf Gutgläubigkeits-Schublade) und weiß gleichzeitig, meine Kräfte einzuteilen (Faules-Stück-Schublade).
Jetzt wird's hier aber schon ganz schön bunt.
Und das, bevor ich irgendwas zu meinen Einstellungen und Überzeugungen gesagt habe oder zu meinem Backround.

Tatsächlich beobachte ich in letzter Zeit, wie stark die Leute dazu neigen, jemanden wegen seiner Meinung zu einem Thema in eine Schublade zu stecken und in die xy-Ecke zu stellen.
Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, dass es vielleicht noch viele andere Themen gibt, zu denen man vielleicht übereinstimmender Meinung ist.
Dies führt dazu, dass man sich mit der Person und oder der fraglichen Meinung gar nicht mehr auseinandersetzen will: Ab in den Giftschrank und ruhe im Karton!

Ich persönlich denke schon, dass es legitim ist, ein bestimmtes Thema nicht diskutieren zu wollen. Manchmal kann man gerade nicht. Weil es einen zu sehr aufregt, oder weil persönliche Gefühle es einem nicht erlauben, sachlich zu bleiben, oder weil es einem so wichtig ist, dass man es nicht erträgt, wenn jemand die eigene Meinung nicht teilt.

Zum Beispiel bekomme ich seit mehreren Wochen täglich Mails mit Links zu fremdenfeindlichen Artikeln. Manchmal checke ich mein Postfach tagelang nicht, weil ich einfach keinen Bock habe auf diesen Müll.
Ich bin mit der Person verwandt, und bevor diese mir zum ersten Mal ihre Meinung über Ausländer kommunizierte, haben wir uns gut in allem verstanden.
Dann habe ich eine zeitlang den Kopf in den Sand gesteckt und mich nicht mehr zurückgemeldet. Doch irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und auf jede fremdenfeindliche Mail geantwortet mit Gegenargumenten, Links mit Gegendarstellungen und Gegenbeispielen. Es hat mich wirklich mitgenommen, den ganzen Geifer lesen zu müssen, und ich habe viel Zeit darauf verwendet, zu recherchieren und dann in Mails meine Ansicht darzulegen. Meine Argumente wurden dabei häufig ignoriert; statt einer konkreten Antwort wurde ich zum Beispiel auf Meldungen über von Ausländern verübten Verbrechen aufmerksam gemacht. Meist habe ich mich einfach nur hilflos gefühlt, manchmal war ich auch würend darüber. Einmal habe ich gesagt, das seien doch alles Propagandameldungen. Gebracht hat es natürlich nichts. Außer, dass die Person mich aus ihrem Verteiler genommen hat. Trotzdem bekomme ich manchmal noch Spam: da ich mich als "Gutmensch" geoutet habe, muss ich "bekehrt" werden.
Nein, ich will das nicht diskutieren. Ich finde es unerträglich, dass man es überhaupt diskutieren muss. Asylrecht ist ein Menschenrecht und basta. Und Menschen, die gerade hier ankommen, schlechte Absichten zu unterstellen, weil man Angst hat vor dem was man nicht gewohnt ist, ist einfach ungerecht. Punkt.
Dennoch werde ich weiterhin mit der Person reden. Und wenn es sein muss, auch darüber. Letztlich steckt da vielleicht auch so etwas wie Trotz drin: wäre ja noch schöner, sie in dem Glauben zu lassen, ihre Einstellung sei normal...
Gleichzeitig weiß ich natürlich, dass die Person Fremdenfeindlichkeit sehr wohl für normal hält und mich für blind. Das muss ich jetzt aushalten.

Aber zurück zu mir und den Schubladen. Also in Sachen Einstellung ist schon mal die Gutmensch-Schublade hinzugekommen. Über ichhelfe.jetzt habe ich mich als Freiwillige registriert und außerdem unterstütze ich die Aktion bloggerfuerfluechtlinge. Bin ich jetzt in der Refugees-Welcome-Schublade? Schon n bissl rote Farbe zu sehen? Wie wär's mit Grün?
Ich bin tatsächlich der Meinung, man sollte möglichst nur Recycling-, Bio- und Fair-Trade-Produkte verwenden. Jeder nach seinen finanziellen Möglichkeiten natürlich. Ich kaufe durchaus gerne Second-Hand-Klamotten. Außerdem lasse ich die Finger von Palmöl und allem, was selbiges enthält, so gut ich kann. Das ist gar nicht so leicht, denn Palmöl ist sowohl in Kosmetika als auch in Lebensmitteln ein sehr häufiger Inhaltsstoff. Ich mag nur nicht für das Aussterben der Orang-Utans mitverantwortlich sein. Außerdem boykottiere ich Nestle. Zum Glück trinke ich meist nur Leitungswasser, Kaffee oder Tee, denn wenn man das mal bei Tante Wiki nachschlägt, hat man den Eindruck, dass alle Getränkemarken zu Nestle gehören, ganz zu schweigen von Fertigwaren. Die drei Schokoladenhersteller, die nicht Nestle sind, kann ich mir noch merken. Außerdem schmeckt Bio-Schokolade eh besser. Nestle kauft nämlich Brunnen in Entwicklungsländern auf, wodurch dann Menschen der Zugang zu Trinkwasser abgeschnitten wird (und das ist nur eines von vielen Problemen, die der Konzern verursacht). Ich war auch schon auf der "Wir haben's satt" Demo. Öko-Schublade.
Ich bin aber kein Vegetarier. Ignorante-Fleichschfresser-Schublade.

Und jetzt wird's noch besser: ich bin katholischen Glaubens. Seit meinem 18. Lebensjahr, um genau zu sein. Ach du Scheiße, na das ist ja vielleicht ne Schubladennummer! Jetzt wird's lustig:
Konservativ-Schublade. Hm. Ähhh... verträgt sich das mit Öko? Und Gutmensch? Mit Refugees welcome? Nein? Na so'n Pech. Dann passt die wohl nicht, oder wie?
Intoleranz-Schublade. Okay, also... Intolerant gegen wen? Ausländer hatten wir schon. Stimmt also nicht. Ach ja, Homosexuelle! Katholiken haben doch was gegen Homosexuelle! Nee, sorry Leute, das passt nich so wirklich. Meine Mutter lebt mit einer Frau zusammen seit ich 7 war. Wenn ich das Wort Eltern benutze meine ich damit meine Mutter und ihre Lebensgefährtin. Ich hab natürlich auch einen Vater, den nenn ich Papa. Aber Eltern sind halt die, die mich großgezogen haben. Mein Schülerpraktikum in der neunten Klasse habe ich im Queer Verlag absolviert. Und ich würde es auch nochmal machen, wenn ich ein Praktikum bräuchte. Und man mich ließe. Achja, aber ich bin intolerant gegen Nazis.
Ich bin aber nicht nur für Umwelt- und Tierschutz, sondern auch für Lebensschutz. Das Leben von Flüchtlingen zum Beispiel, aber auch das Leben von denen, die gar keine eigene Stimme haben; Schwerbehinderte oder ungeborene Kinder zum Beispiel. Ich habe schon mal ein Projekt zum Thema Behindertensport begleitet. Und ich bin bei der DKMS als Knochenmarkspender registriert... - Na, aber jetzt nicht rausreden hier! Zugeschnappt! Voll drin in der Abtreibungsgegner-Schublade! Nazi! ...Wie meinen? Siehe oben; Gutmensch, pro Asyl, Umweltschutz und so. Und nein, ich bin nicht der Meinung, ein konservatives Familienideal sei das allein seligmachende. Ich weiß nämlich aus Erfahrung, dass es auch anders geht. Ich finde nur, dass es bei ungewollten Schwangerschaften genug andere Lösungen und Hilfsangebote gibt, und dass man diese Möglichkeiten nicht ignorieren sollte.

Ist Abtreibungsgegner sein so schlimm wie Nazi sein?
Also meine Verwandte, die mit den fremdenfeindlichen Mails, die ist für Abtreibung.
Und sie ist nicht nur keine Katholikin, sie distanziert sich sogar ausdrücklich vom Christentum. Sie sei Buddhistin, sagt sie.

Spätestens an diesem Punkt kommt mein Grübeln über Schubladendenken an seine Grenzen.
Oder auch nicht. - Was ich dazu denke, lässt sich mit dem Satz zusammenfassen: Ich finde es erschreckend, wie Positionen, die auch nur konservativ aussehen, in die Nazi-Ecke gestellt werden. Mit diesem Begriff sollte man nicht spaßen - und die Bedenkenlosigkeit die ich da zuweilen beobachte finde ich pietätlos und beleidigend.

Es gibt mit Sicherheit Vieles, wo ich mit euch einer Meinung bin, und ebenso Vieles, wo sich unsere Ansichten total unterscheiden oder sogar komplett gegenseitig ausschließen.
Leute, was kann ich dafür, dass ich - genau wie bei näherer Betrachtung jeder Mensch - eure Schubladen sprenge?
Macht sie weiter, macht sie bunter. Die Schubladen.

Leben und leben lassen.

Freitag, 9. Oktober 2015

Wider den gesunden Menschenverstand...

... sind manche Aktionen und Gerüchte, die offensichtlich in der Absicht verbreitet werden, Angst zu schüren.


Als ich es zum ersten Mal sah, sah ich es nicht.
Einige meiner Facebook Kontakte posteten einen Black Screen mit dem Kommentar, ein bestimmtes Foto nicht ansehen oder verbreitet wissen zu wollen.
O-Ton war dabei: Wir trauern um Aylan Kurdi. Und wir wollen ein Zeichen setzen für die Würde dieses Kindes, dessen Bild gerade (auch) trauernde Angehörige wieder und wieder sehen müssen, weil es zum Symbol wird.

Dann stoplerte ich über einen Artikel in dem es hieß, man solle der Flüchtlingskatastrophe - durchaus auch mit solchen Bildern - ein Gesicht geben.


Doch es passierte, was passieren musste: die Schlacht begann.

Ebenjener Vater sei Schlepper und außerdem wollte er nur deswegen nicht in der Türkei bleiben, weil er seine Zähne machen lassen wollte...

Oh ja, das Verbreiten von verleumdnerischen Gerüchten über den Vater ist natürlich ein geeignetes Mittel, um gegen die Instrumentalisierung eines toten Kindes zu protestieren.
Und dabei kann man der "Lügenpresse" auch mal so richtig zeigen, wo der Hammer hängt.

Leute, was habt ihr bloß mit eurem gesunden Menschenverstand gemacht?


Ja, die Familie hat zuvor versucht, nach Kanada zu emigrieren.
Ja, es gibt scheinbar zwei abweichende Versionen vom Bericht über die tragische Nacht, beide aus dem Mund des Vaters, der in ebendieser Nacht seine gesamte Familie verlor.
Ja, es ist auch mir nicht gelungen, eine Erklärung dafür zu finden, warum eine Familie, die in jener Nacht ebenfalls zwei Kinder verlor, angibt, der Vater Aylan Kurdis sei Schlepper.

Doch kann ich nach Prüfung der Sachlage feststellen:

In der Türkei wurden bereits mutmaßliche Schlepper, die auch für den Tod von Aylan Kurdi und weiteren Flüchtlingen in jener Nacht verantwortlich sein sollen, verhaftet.
Der Vater von Aylan Kurdi wurde nicht verhaftet.
Es findet sich auch keine andere Person, die diesen Verdacht bestätigt, und das, obwohl in einigen Artikeln von weiteren Zeugen die Rede ist.
In jener Nacht kenterten zwei Schlauchboote. Letztlich lässt sich nicht nachweisen, wer auf welchem war.
Die Interviews wurden beide übersetzt, beide außerdem kurz nach dem Unglück aufgenommen, da muss man nicht annehmen, dass der Vater von Aylan Kurdi lügt, um Unstimmigkeiten zu erklären.
Auffällig ist, dass ein Zeitungsbericht meldet, insgesamt seien drei Kinder unter den Ertrunkenen in Aylan Kurdis Boot gewesen, davon zwei die Geschwister Kurdi, während ebenjene Familie, die bezeugt, Aylan Kurdis Vater sei Schlepper, ebenfalls zwei Kinder bei ihrer Überfahrt verloren hat.
In der Türkei haben die Flüchtlinge keine echten Chancen, sich zu integrieren; statt dessen müssen sie zu Dumpinglöhnen arbeiten, sich irgendwie über Wasser halten. Da ist klar, dass man weiter will, sobald man merkt, dass man nicht zurück kann, weil die Situation zu Hause unverändert ist. Denn in der Türkei kann man sich kein neues Leben aufbauen. Der Vater von Aylan Kurdi hat sogar so schlecht verdient, dass seine Schwester von Kanada aus seine Miete zahlen musste.
Die Türkei verweigert den Flüchtlingen die Anerkennung ihres Status und drängt sie so in ein halbillegales Leben. Dadurch haben sie keine gültigen Papiere und ihre Ausweise sind nichts mehr wert. Sie erhalten keine Ausreisevisa und können sich nicht von der UN als Flüchtlinge registrieren lassen. Im vorliegenden Fall wurde der in Kanada gestellte Asylantrag von Aylan Kurdis Familie abgelehnt, weil eben diese Papiere fehlten.
Dem Vater von Aylan Kurdi fehlen Zähne, weil er von dem IS gefoltert worden war.

Und nicht zuletzt fragt sich doch jeder geistig gesunde Mensch:


Wieso sollte ein Schlepper seine Familie mit auf ein Boot nehmen?

Ein berechnender Geschäftsmann, der sich sehr wohl bewusst ist, dass er Gesetze bricht und seine Klienten in Lebensgefahr bringt, nimmt seine Familie, bestehend aus einer Frau die nicht schwimmen kann und zwei Kleinkindern die ebenfalls Nichtschwimmer sind, mit auf ein überladenes Schlauchboot?
Klar.
Den Medien, die das verbreiten kann man, im Gegensatz zur "Lügenpresse" ja wirklich mal glauben!

Sonntag, 4. Oktober 2015

Vier Monate zusammen und noch immer nicht...

... verblödet, äh verbloggt, äh nein, doch, verblödet


Nein, ich habe nicht die Absicht, etwas dazu zu sagen, wie die Beziehung zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und den Bloggern aussieht im Vergleich dazu wie sie aussehen sollte.

Die Palme auf der ich diese Überschrift fand wurde von jemand anderem gepflanzt:
Ellen Jacobi. Ihr auf dem Jakobsweg spielender Roman "Frau Schick räumt auf" ist besser geschrieben als unsere letzte Nachtlektüre. Nur leider strotzt sie umso mehr von blöden Ideen derselben Art.

Der Roman wurde mir von einer lieben Freundin geliehen. Wäre es mein Buch, hätten wir den Text wohl bereits redigiert. Um 2/3 kürzer wäre es wahrscheinlich ein guter Roman. So beschlossen wir gestern, hm, eigentlich wollen wir ja doch weiterlesen, wir tun einfach so als sei das letzte Kapitel nicht existent.

Man kann sich ja fragen, wieso wor sowas tun. Also schlechte Literatur lesen, die auch noch Themen verunglimpft mit denen wir zwei uns nicht nur besser auskennen als die Autoren, sondern die uns auch noch am Herzen liegen. Nun ja. Sagen wir mal, sich gemeinsam zu amüsieren kann eben viele Formen annehmen... Es ist so ein bisschen wie beim gemeinsamen Schlagabtausch mit der Facebook Repräsentanz des Bistums Münster. (Und wehe hier sagt jetzt einer, wir sollten uns nicht gegenseitig hochjubeln!)

Doch genug der Vorrede.
Her mit der Palme!
Ich zitiere:

"Immer nur verliebt und wie mit Pattex aneinandergeklebt, das führt doch zur Verblödung!" (S. 222)

Wir haben erst mal gelacht.

Doch was genau steckt eigentlich hinter dieserm postfeministischen Liebes-unglauben?
Ich spule mal ein paar Sätze zurück:

"Die meisten jungen Leute haben da heute ja höchst unvernünftige Erwartungen und gehen sofort auseinander, wenn es mit der Romantik in der Ehe nicht mehr klappt. Romantik ist ja geradezu eine neue Religion." (ebd.)

So weit so zustimmungsfähig.
Wir waren auch erst mal direkt erstaunt, wo die Autorin so plötzlich ein weises Wort hernahm.

Doch die dem folgende Gleichsetzung von Liebe, Romantik und Verliebtheit offenbart den Fehler im System.
Aber keine Angst, es geht noch platter:

"Immerhin haben sie und Paulchen einander immer respektiert und auch das Bedürfnis nach Eigenleben. Sie haben ihre Persönlichkeiten nie dem Partnerlook geopfert [...]" (ebd.)

Also. Postfeministische Lebens- und Liebesweisheit mal kurz auf eine Formel gebracht:
Liebe = Romantik = Verliebtheit = das, was einen zu solchen Plattitüden wie Partnerlook treibt = Aufgabe der eigenen Persönlichkeit
Klar.


Nun, ich bin eigentlich schon immer der Meinung gewesen, dass die gegenwärtige Zeit es einem besonders schwer macht, seinen geeigneten Partner zu finden.

Der moralische Liberalismus erlaubt es nämlich, dass romantische Gefühle zur Bedürfnisbefriedigung missbraucht werden.
Doch machen wir uns nichts vor: Das ging früher auch. Und hinterließ weit dramtischere Spuren, wenn etwa eine Sitzengelassene der gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt war und, allein, vielleicht aus Familie und Heimat verstoßen, ein ebenso geächtetes Kind durchbringen musste.
Heute ist es nicht im geringsten ungewöhnlich, wechselnde oder eben gar keine Beziehungen zu haben. Ich z.B. bin in der Überzeugung aufgewachsen, allein erziehende Mutter zu sein ist genau so normal wie eine Familie mit Partner zu haben. Natürlich ist diese durch mein kindliches Erleben geprägte Auffassung schon eine gewisse Zuspitzung, lässt sich doch festhalten, dass es in der Gesellschaft schon auch ein Problembewusstsein gibt dafür, dass es eben allein mit Kind schwer ist.

Der Punkt ist: Heutzutage ist es normal, schnell Beziehungen einzugehen und mit dem Partner im Bett zu landen, bevor man Zeit hatte zu überprüfen, ob die Verliebtheit denn auch wirklich zu echter Liebe heranwachsen kann. Verliebtsein ist romantisch, deshalb schön. Stimmt soweit. Falsch aber ist es, anzunehmen, genau deshalb haben Vorsicht und Geduld da nichts zu suchen.

Ja, ich bin meine Beziehungen auch so schnell eingegangen. Alle. Ich konnte schlicht nicht anders, weil es mich zu dem drängte, an den mein Herz sich zu hängen anfing.
Ich habe nie gelernt, wie man es schafft, das Herz aufmerken zu lassen, den Schritt zu lenken und zu verlangsamen, um erst zu prüfen, ob sich denn da, bei diesem, auch Boden findet, auf dem ich und mein Herz leben können.
Dazu kommt, dass Vorsicht dieser Art heute nicht mehr als Sorgfalt erkannt wird. Allzu schnell hält man für Abweisung und Lieblosigkeit was sich doch eigentlich gerade aus echter Liebe speist.
Ist ja auch kein Wunder; in einer Gesellschaft, in der es normal ist, zumindest theoretisch mit jedem ins Bett zu gehen der einem auch nur gefällt.

Als ich 16 war stellte mir eine zwei Jahre ältere Freundin am Telefon die Frage, ob sie noch normal sei. Es ging darum, dass sie mit 18 noch Jungfrau war. Natürlich ist das noch normal, machte ich mich stark.
Aber was ich nicht wusste und was mir die gesamte Atmosphäre um mich herum anders beigebracht hat ist, dass es nicht total absurd ist, mit jemandem den man liebt nicht gleich ins Bett zu geben.
In diesem Sinne haben die Postfeministinnen Recht:
Wer sich von Romantik dazu verführen lässt, Verliebtheit vorschnell mit Liebe gleichzusetzen, macht sich verletzlich und bringt sich in die doppelte Gefahr der Vereinnahmung einer- und des Sitzengelassenwerdens andererseits.

Wenn es in einer übereilt aus romantischer Verblendung eingenangenen Beziehung an Liebe mangelt, ist man in einer ständigen Bringepflicht: Man muss dem anderen jeden Tag aufs Neue beweisen, wie man den anderen am Anfang so begeistern konnte.
Ich werde nie den bodenlos enttäuschten Gesichtsausdruck meines Ex vergessen, als er mir, mit einer Mischung aus Ratlosigeit und Vorwurf, sagte: "Und ich dachte, du wärst fleißig!"
Oder wie er, neben anderen Vorwürfen, die er im Annulierungsprozess erhob, um meine Glaubwürdigkeit zu diskreditieren, schrieb, ich habe bei der morgendlichen Zubereitung von Schnittchen für seine Mutter keine Rücksicht darauf genommen, was sie aufgrund ihres krebsgeschädigten Magens nicht vertrug.

Bringepflicht:
Ich habe, nicht täglich, aber doch gewohnheitsmäßig, solche Sachen gemacht wie für meine Schwiegermutter etwas vorbereiten, dabei - natürlich! - Brotbelag gewählt, den sie bevorzugte und mit der geringen Auswahl versucht, eine durch Abwechslung anregende Mischung zu finden, damit sie sich nicht ausschließlich von Kuchen ernährte, oder gar nichts aß. Weniger erfolgreich war ich in Sachen Haushalt; sowas wie Staubsaugen und Staubwischen etc. habe ich nicht in einem wöchentlichen Rhythmus geschafft, jede Woche die Wäsche zu machen ging meist noch gerade.
Liebe, Zuneigung oder auch nur Respekt konnte ich damit nicht erwerben.

Wahrscheinlich bin ich verblödet.


Aber, liebe Postfeministinnen, diese Phänomene haben mit Liebe nichts zu tun.

Sie werden möglich, weil es heutzutage nicht mehr notwendig ist, sich einer Person an der man ein sexuelles Interesse hat, mit respektvoller Vorsicht zu nähern. Sie werden möglich, weil es heutzutage verpönt ist, abzuwarten und sich zurückzuhalten, bis man wirklich weiß, ob diese Verliebtheit zu echter Liebe wachsen kann, oder ob es sich nur um eine romantische Verblendung handelt. Sie werden möglich, weil man allzu oft nur die Wahl hat, ob man sich jemandem jetzt verpflichtet fühlen soll, weil er einem den Hof macht, oder eben nicht.


Ich bin davon überzeugt, dass eine Erziehung, in der mir beigebracht wird, wie zum Teufel noch mal man es anstellt, seine Jungfräulichkeit zu bewahren, mir (und auch den meisten anderen Menschen!) viel Seelenqual und biografische Irrwege erspart hätte. Aber dieses Wissen ist und bleibt mir verborgen.


Wie habe ich das gelöst?

Ich habe nach einer sehr schmerzhaften Zeit sehr genau gewusst, worauf ich achte, ganz von selbst haben sich anhand der Negativerfahrung in mir die Fragen gebildet: Welche Eigenschaften muss ein Mann haben, damit ich ihn wirklich lieben kann, mit allem was dazugehört? Welche Eigenschaften braucht er, damit er mich so lieben kann wie ich bin? Welche Eigenschaften stören mich an einem Mann so sehr, dass ich ihn nicht verstehen, nicht lieben, nicht respektieren könnte? Welche Eigenschaften würden es ihm erschweren, ja unmöglich machen, mich zu verstehen, zu lieben und zu respektieren?
Das Leben hielt mich fest am Ort der Schmerzen, bis ich auch die Antworten hatte.

Und dann kam das Wunder:
Beim Lesen eines gewissen Blogs ging bei mir ein Licht an und die aus den Antworten gebildete 'innere Liste' klappte auf:
Ich las und las und las und ein Häkchen nach dem anderen erschien.
Ein Screenshot verriet mir den Namen seines Facebook-Profils - genau zwei Tage bevor Zuckerdose ihn aufforderte, seinen realen Namen im Profil anzugeben.
Ein Blick in die Info-Rubrik setzte ein weiteres wichtiges Häkchen in meine Liste.

Und jetzt wollte ich sehen, ob das Potential sich in der Begegnung tatsächlich entladen würde.

Es tat's.

Mein Liebster und ich sind tatsächlich gerade etwas mehr als vier Monate ein Paar.
Und wir können immer wieder erstaund feststellen:
Es ist gar nicht langweilig, sich die ganze Zeit zu sagen, dass man sich lieb hat.
Da braucht man auch kein Pattex.
Und der Partnerlook wird davon auch nicht angelockt.