Freitag, 16. Oktober 2015

Macht die Schubladen bunter!

Schubladendenken ist eine menschliche Grundkonstante.

Unser Gehirn sortiert Informationen, versieht sie mit Etiketten, unter denen sie schneller abgerufen werden können, clustert sie zu Wissensfeldern. Was zu bereits vorhandenen Informationen passt, können wir uns besser merken, ebenso wie Dinge, die mit einem besonderen Ereignis oder mit starken Gefühlen zu tun haben.
Das Ziel unserer Gedächtnisbildung besteht schließlich nicht darin, uns zu einem wandelnden Lexikon zu machen, sondern in der Lebensfähigkeit. Ich zum Beispiel konnte mir Telefonnummern früher leicht merken. Jetzt geht das gar nicht mehr - ist ja eh alles im Handy gespeichert also wozu auch?

Es ist also prinzipiell so, dass jeder seine eigene Real-life-Filterbubble konstruiert. Ganz natürlich.
Auch Menschen, die uns begegnen, ordnen wir in bestimmter Weise ein. Kollege, Vorgesetzter, Freund, Familie, oder die neue Eroberung meines besten Kumpels? Wir erwarten von Menschen Eigenschaften, die zu dem Umfeld passen in dem sie uns begegnen.
Der erste Eindruck zählt.
Dieses Sprichwort zeugt davon, dass uns sehr wohl bewusst ist, wie schnell andere uns in Schubladen stecken und wie schwer es ist, aus so einer Schublade wieder herauszukommen, wenn man einmal drin gelandet ist.
Der erste Eindruck trügt.
Der sprichwörtliche Gegenpart dazu zeigt, dass auch die Fehleranfälligkeit unserer Schubladensortierung keine unbekannte Erfahrung ist.

Ja, auch ich passe in Schubladen. Und zwar eigentlich nicht in weniger, als man denkt, sondern in mehr davon.
Ich bin ein sehr offener Mensch und komme gerne mit anderen ins Gespräch, wobei ich oft recht viel von mir preisgebe. - Die Vertrauensselig-Schublade und die Guter-Kumpel-Schublade.
Ich kann aber auch recht unsicher sein und bin manchmal unbeholfen und verhuscht, manchmal träume ich einfach nur... - die Unhöflich-Schublade, vielleicht sogar eine Eingebildet-Schublade - und das bin ich nun wirklich nicht, ich bin für jeden Scheiß zu haben! Achja, das wäre dann die Mit-der-kann-mann's-ja-machen-Schublade. Aber die Kumpel-Schublade wird von dieser Eigenschaft auch gefüttert und auch die Auf-die-kann-man-sich-verlassen-Schublade.
Ich bin hilfsbereit (Helfersyndrom-Schublade trifft auf Gutgläubigkeits-Schublade) und weiß gleichzeitig, meine Kräfte einzuteilen (Faules-Stück-Schublade).
Jetzt wird's hier aber schon ganz schön bunt.
Und das, bevor ich irgendwas zu meinen Einstellungen und Überzeugungen gesagt habe oder zu meinem Backround.

Tatsächlich beobachte ich in letzter Zeit, wie stark die Leute dazu neigen, jemanden wegen seiner Meinung zu einem Thema in eine Schublade zu stecken und in die xy-Ecke zu stellen.
Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, dass es vielleicht noch viele andere Themen gibt, zu denen man vielleicht übereinstimmender Meinung ist.
Dies führt dazu, dass man sich mit der Person und oder der fraglichen Meinung gar nicht mehr auseinandersetzen will: Ab in den Giftschrank und ruhe im Karton!

Ich persönlich denke schon, dass es legitim ist, ein bestimmtes Thema nicht diskutieren zu wollen. Manchmal kann man gerade nicht. Weil es einen zu sehr aufregt, oder weil persönliche Gefühle es einem nicht erlauben, sachlich zu bleiben, oder weil es einem so wichtig ist, dass man es nicht erträgt, wenn jemand die eigene Meinung nicht teilt.

Zum Beispiel bekomme ich seit mehreren Wochen täglich Mails mit Links zu fremdenfeindlichen Artikeln. Manchmal checke ich mein Postfach tagelang nicht, weil ich einfach keinen Bock habe auf diesen Müll.
Ich bin mit der Person verwandt, und bevor diese mir zum ersten Mal ihre Meinung über Ausländer kommunizierte, haben wir uns gut in allem verstanden.
Dann habe ich eine zeitlang den Kopf in den Sand gesteckt und mich nicht mehr zurückgemeldet. Doch irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und auf jede fremdenfeindliche Mail geantwortet mit Gegenargumenten, Links mit Gegendarstellungen und Gegenbeispielen. Es hat mich wirklich mitgenommen, den ganzen Geifer lesen zu müssen, und ich habe viel Zeit darauf verwendet, zu recherchieren und dann in Mails meine Ansicht darzulegen. Meine Argumente wurden dabei häufig ignoriert; statt einer konkreten Antwort wurde ich zum Beispiel auf Meldungen über von Ausländern verübten Verbrechen aufmerksam gemacht. Meist habe ich mich einfach nur hilflos gefühlt, manchmal war ich auch würend darüber. Einmal habe ich gesagt, das seien doch alles Propagandameldungen. Gebracht hat es natürlich nichts. Außer, dass die Person mich aus ihrem Verteiler genommen hat. Trotzdem bekomme ich manchmal noch Spam: da ich mich als "Gutmensch" geoutet habe, muss ich "bekehrt" werden.
Nein, ich will das nicht diskutieren. Ich finde es unerträglich, dass man es überhaupt diskutieren muss. Asylrecht ist ein Menschenrecht und basta. Und Menschen, die gerade hier ankommen, schlechte Absichten zu unterstellen, weil man Angst hat vor dem was man nicht gewohnt ist, ist einfach ungerecht. Punkt.
Dennoch werde ich weiterhin mit der Person reden. Und wenn es sein muss, auch darüber. Letztlich steckt da vielleicht auch so etwas wie Trotz drin: wäre ja noch schöner, sie in dem Glauben zu lassen, ihre Einstellung sei normal...
Gleichzeitig weiß ich natürlich, dass die Person Fremdenfeindlichkeit sehr wohl für normal hält und mich für blind. Das muss ich jetzt aushalten.

Aber zurück zu mir und den Schubladen. Also in Sachen Einstellung ist schon mal die Gutmensch-Schublade hinzugekommen. Über ichhelfe.jetzt habe ich mich als Freiwillige registriert und außerdem unterstütze ich die Aktion bloggerfuerfluechtlinge. Bin ich jetzt in der Refugees-Welcome-Schublade? Schon n bissl rote Farbe zu sehen? Wie wär's mit Grün?
Ich bin tatsächlich der Meinung, man sollte möglichst nur Recycling-, Bio- und Fair-Trade-Produkte verwenden. Jeder nach seinen finanziellen Möglichkeiten natürlich. Ich kaufe durchaus gerne Second-Hand-Klamotten. Außerdem lasse ich die Finger von Palmöl und allem, was selbiges enthält, so gut ich kann. Das ist gar nicht so leicht, denn Palmöl ist sowohl in Kosmetika als auch in Lebensmitteln ein sehr häufiger Inhaltsstoff. Ich mag nur nicht für das Aussterben der Orang-Utans mitverantwortlich sein. Außerdem boykottiere ich Nestle. Zum Glück trinke ich meist nur Leitungswasser, Kaffee oder Tee, denn wenn man das mal bei Tante Wiki nachschlägt, hat man den Eindruck, dass alle Getränkemarken zu Nestle gehören, ganz zu schweigen von Fertigwaren. Die drei Schokoladenhersteller, die nicht Nestle sind, kann ich mir noch merken. Außerdem schmeckt Bio-Schokolade eh besser. Nestle kauft nämlich Brunnen in Entwicklungsländern auf, wodurch dann Menschen der Zugang zu Trinkwasser abgeschnitten wird (und das ist nur eines von vielen Problemen, die der Konzern verursacht). Ich war auch schon auf der "Wir haben's satt" Demo. Öko-Schublade.
Ich bin aber kein Vegetarier. Ignorante-Fleichschfresser-Schublade.

Und jetzt wird's noch besser: ich bin katholischen Glaubens. Seit meinem 18. Lebensjahr, um genau zu sein. Ach du Scheiße, na das ist ja vielleicht ne Schubladennummer! Jetzt wird's lustig:
Konservativ-Schublade. Hm. Ähhh... verträgt sich das mit Öko? Und Gutmensch? Mit Refugees welcome? Nein? Na so'n Pech. Dann passt die wohl nicht, oder wie?
Intoleranz-Schublade. Okay, also... Intolerant gegen wen? Ausländer hatten wir schon. Stimmt also nicht. Ach ja, Homosexuelle! Katholiken haben doch was gegen Homosexuelle! Nee, sorry Leute, das passt nich so wirklich. Meine Mutter lebt mit einer Frau zusammen seit ich 7 war. Wenn ich das Wort Eltern benutze meine ich damit meine Mutter und ihre Lebensgefährtin. Ich hab natürlich auch einen Vater, den nenn ich Papa. Aber Eltern sind halt die, die mich großgezogen haben. Mein Schülerpraktikum in der neunten Klasse habe ich im Queer Verlag absolviert. Und ich würde es auch nochmal machen, wenn ich ein Praktikum bräuchte. Und man mich ließe. Achja, aber ich bin intolerant gegen Nazis.
Ich bin aber nicht nur für Umwelt- und Tierschutz, sondern auch für Lebensschutz. Das Leben von Flüchtlingen zum Beispiel, aber auch das Leben von denen, die gar keine eigene Stimme haben; Schwerbehinderte oder ungeborene Kinder zum Beispiel. Ich habe schon mal ein Projekt zum Thema Behindertensport begleitet. Und ich bin bei der DKMS als Knochenmarkspender registriert... - Na, aber jetzt nicht rausreden hier! Zugeschnappt! Voll drin in der Abtreibungsgegner-Schublade! Nazi! ...Wie meinen? Siehe oben; Gutmensch, pro Asyl, Umweltschutz und so. Und nein, ich bin nicht der Meinung, ein konservatives Familienideal sei das allein seligmachende. Ich weiß nämlich aus Erfahrung, dass es auch anders geht. Ich finde nur, dass es bei ungewollten Schwangerschaften genug andere Lösungen und Hilfsangebote gibt, und dass man diese Möglichkeiten nicht ignorieren sollte.

Ist Abtreibungsgegner sein so schlimm wie Nazi sein?
Also meine Verwandte, die mit den fremdenfeindlichen Mails, die ist für Abtreibung.
Und sie ist nicht nur keine Katholikin, sie distanziert sich sogar ausdrücklich vom Christentum. Sie sei Buddhistin, sagt sie.

Spätestens an diesem Punkt kommt mein Grübeln über Schubladendenken an seine Grenzen.
Oder auch nicht. - Was ich dazu denke, lässt sich mit dem Satz zusammenfassen: Ich finde es erschreckend, wie Positionen, die auch nur konservativ aussehen, in die Nazi-Ecke gestellt werden. Mit diesem Begriff sollte man nicht spaßen - und die Bedenkenlosigkeit die ich da zuweilen beobachte finde ich pietätlos und beleidigend.

Es gibt mit Sicherheit Vieles, wo ich mit euch einer Meinung bin, und ebenso Vieles, wo sich unsere Ansichten total unterscheiden oder sogar komplett gegenseitig ausschließen.
Leute, was kann ich dafür, dass ich - genau wie bei näherer Betrachtung jeder Mensch - eure Schubladen sprenge?
Macht sie weiter, macht sie bunter. Die Schubladen.

Leben und leben lassen.

1 Kommentar:

  1. Es hat doch jeder normale Mensch (oh, hmm... definiere "normal"...) eine Schublade, in die er tut, was in keine andere passt. Postkarten, die an längst Vergangenes erinnern, kleine Geschenke, die eigentlich total kitschig sind, aber von lieben Menschen stammen, den längst abgelaufenen Pass mit dem israelischen Stempel, einen schönen Stein, ein Stück Bindfaden, ein Ladekabel für ein Gerät, das man längst weggeworfen hat, aber vielleicht braucht man ja genau so ein Ladekabel irgendwann wieder...
    In so eine Schublade könnte ich auch passen. Die ganzen anderen Schubladen sind natürlich trotzdem wichtig.

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