Warnung! Dies ist eine Geschichte über den Schmerz!
Irgendwie war es seltsam still.
Normalerweise wachte sie auf, wenn er aufstand.
Den Wecker hatte sie noch nie gehört, aber wenn er wach wurde und
anfing, sich zu bewegen, dann holte er sie aus dem Schlaf. Manchmal rannte er
nachts durch die Wohnung, weil seine Herzrhythmusstörungen ihn aus dem Schlaf
gerissen hatten. Voller Panik hastete er dann durch die Räume, bis sie wach
wurde. Es ging schnell. Nur ein kurzer Moment der Orientierungslosigkeit, dann
der Schock des Erkennens, der sie im Bett hochfahren ließ.
Und sie würde aufstehen und rausgehen, um ihn zu beruhigen. Ein
bisschen seiner Angst nehmen, die sich dann zu ihrer eigenen gesellte, und ihn
umarmen, um ihn zu trösten.
Er drückte sie nicht an sich, denn er war ja derjenige der
getröstet wurde.
Aber nach einer Weile konnten sie wieder ins Bett gehen und
weiterschlafen. Da lag sie dann und lauschte, während sich sein Atem beruhigte
und schließlich zu jenem tröstenden Schnarchgeräusch anschwoll, das ihr zeigte,
dass wieder alles in Ordnung war. In solchen Nächten lag sie oft lange wach,
denn all die Ängste, die bereits sorgfältig in den Kerkern ihres Herzens
verwahrt wurden, beäugten den Neuankömmling misstrauisch. Sie wurden unruhig
und zerrten an ihren Ketten und manchmal brach eine der Bestien aus ihrem Käfig
aus und fuhr mit scharfen Krallen durch
den Mittelpunkt ihrer Seele.
Sie kannte das bereits und wartete einfach ab, bis es sich
ausgetobt hatte. Irgendwann wurde es müde und ließ sich wieder einfangen. Oder
es wanderte noch einige Wochen durch die Räume ihres Seins. Aber sein matter
Schritt konnte nur ein blasses Echo in ihr hervorrufen.
Doch heute war es anders.
Fast schien es, als hätten Engel heimlich des Nachts die Luft
gewechselt oder Schnee fallen lassen, der nun alle Geräusche schluckte und das
Schlafzimmer in ein seltsames Licht tauchte.
Es war bereits hell und der Wecker hatte sein Konzert aufgegeben.
Sie drehte sich auf die Seite, um ihn anzusehen und strich ihm
eine Haarsträhne aus der Stirn.
Ein kleines Ächzen entrang sich ihrer Kehle und der Atem rasselte
ein bisschen. Sie seufzte.
Der ganze Schnee war mit einem Mal ziemlich schwer.
Das Bett stand an der Wand und er lag außen, so dass sie jedes Mal
über ihn klettern musste, wenn sie vor ihm aufstehen wollte.
Sie kniete über ihm.
Wie viel Zeit würde ihr wohl noch bleiben?
Schließlich lehnte sie sich nach vorne und lehnte ihre heiße Stirn
gegen seine kalte.
Da klopfte es auch schon.
„Johannes hast du verschlafen?“
„Ja wir kommen gleich!“, brüllte sie und glitt vom Bett. Mit zwei
Schritten war sie an der Tür. „Johannes geht es nicht gut, ich rufe grad einen
Krankenwagen.“ „Was?! Johannes!“ Sie stellte sich ihrer Schwiegermutter in den
Weg, die versuchte, einen Blick in das Schlafzimmer zu werfen. „Würdest du
vielleicht in deinem Zimmer warten? Die müssen ja dann hier durch.“ Die Mutter
konnte schon nichts mehr sagen. Nach wenigen Sekunden war vom anderen Ende des
Flurs Musik zu hören. Marienlieder. So weit, so gut.
Sie ging zurück. „Das hat wehgetan.“ Flüsterte sie in Richtung des
Bettes, während sie nach dem Mobiltelefon griff und den Notruf wählte.
Dabei hatte sie im Grunde gar nichts gesagt. Aber schon die Sorge
an sich hatte gereicht. Der Sohn, der einzige, letzte. Er durfte keinen Regenschirm
vergessen, niemals stolpern und erst recht nicht krank werden.
Und dann das Wort Krankenwagen.
Beim Anblick des Gesichts waren all die Ungeheuer, die nur wenige
Minuten zuvor in eine Art Schockstarre verfallen waren, wach geworden. Sie
rumorten, randalierten und plärrten, dass sie in ihren Grundfesten erschüttert
wurde. Das Beben wogte durch ihren Körper.
Von irgendwo stürzte ein Schwert herab und landete direkt im
Jugulum. Es rutschte weiter und fand, ihr Brustbein längs zerteilend,
schließlich den Weg zum Magen. Dort drehte es sich mehrmals um sich selbst, um
dann wieder nach oben zu schießen. Direkt ins Herz.
„Hallo, mein Name ist Jänicke. Ich glaube, mein Mann hat gerade
einen Herzinfarkt.“
Wenigstens ersparte diese Meldung jede weitere Diskussion.
Sie zog sich an. Es dauerte nicht lange, bis der Krankenwagen da
war. Sie stürzte den Leuten entgegen und stellte sich ihnen in den Weg.
„Hören sie, mein Mann war bereits tot, als ich aufgewacht bin,
aber wenn sie nicht noch eine weitere Leiche da raustragen wollen, dann helfen
sie mir um Himmels willen und sorgen sie dafür, dass seine Mutter das nicht
mitkriegt.“
Die Leute brauchten einen Moment, um den Schock zu verdauen. Einen
weiteren, um zu begreifen, wovon sie redete und noch einen, um sich zu entscheiden,
ob das eine gute Idee war. Aber das spielte im Grunde genommen gar keine Rolle,
denn an diesem Morgen war gut schon ausverkauft. Die Männer wechselten einen
Blick, nickten.
Einer von ihnen lief zurück, um eine Sauerstoffflasche zu holen.
Ihre Schwiegermutter hatte den Kopf aus ihrem Zimmer gesteckt, um
zu sehen, was vor sich ging, ihr Gesicht ein brennender Speer.
Die Sanitäter hatten ihren Mann auf die Trage gelegt und ihm eine
Atemmaske angezogen.
„Würden sie bitte zur Seite gehen.“
„Ich rufe dich gleich an, wenn wir da sind.“ Sie kannte die Qual
des machtlosen Wartens selbst nur zu gut.
Sie rief tatsächlich gleich an und log, dass er noch in der
Notaufnahme sei.
Eine halbe Stunde später telefonierte sie noch einmal und sagte,
es stünde schlecht um ihn. Nach einer weiteren halben Stunde wiederholte sie
den Anruf und dann abermals nach einer Stunde. Weitere 40 Minuten vergingen,
bevor sie sich auf den Heimweg machte.
Sie hatte sich bereits an die Unwetter gewöhnt, die in ihr tobten
und nahm kaum Notiz davon.
Sie dreht die Schlüssel im Schloss und bereitete sich auf einen
weiteren Stoß vor.
Und während sie in die Wohnung trat, um ihrer Schwiegermutter zu
sagen, dass nun bereits der dritte von vier Söhnen vor ihr gestorben war,
dachte sie darüber nach, ob man sie wohl verklagen würde, weil sie die Ambulanz
gerufen hatte, nachdem ihr Mann doch schon tot gewesen war.
S. Reh - August 2012
S. Reh - August 2012
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