Ich saß unten im Einkaufszentrum
und aß meinen kleinen Ein-Euro-Burger. Wie lange war ich unschlüssig um die
Filiale herumgeschlichen? Doch letztlich musste ich ja doch was essen und zu
Hause war nichts mehr.
Was ist schon ein Euro? Auf einen
Euro kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Da aß ich nun. Vorsichtig trennte
ich das Brot vom Unterteil des Burgers ab, um das Gleichgewicht zwischen
Fleisch und Brötchen etwas mehr in Richtung des ersteren zu verschieben.
Ich muss etwas Elegantes an mir
gehabt haben, das mich verriet, als ich die Bröckchen in die Tüte gleiten ließ.
Eine Frau, die vorbeikam, bemerkte es. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie
mich erkannte.
Mit einer scheu suchenden Geste
ließ sie sich neben mir auf die Bank sinken.
Da saß sie und belächelte mein
Essen mit ihrer durchsichtigen Hilflosigkeit.
Noch wusste ich nicht, was sie
wollte. Aber ihr Blick ruhte sich an mir aus und fand Hoffnung.
Auf meiner Tüte fand ich einen
Gutschein für eine Cola. Sie war so scheu: ich musste sie fragen. Ich hielt ihn
ihr unter die Nase. Ein Gutschein ist immerhin etwas anderes als Reste essen.
Es dauerte eine Weile, bis sie zu
ihrem Kopfschütteln eine Stimme bekam. „Ich brauche Nichts“, sagte sie, „ich“
und das Sprechen wurde ihr wieder schwer, „ich muss nur… ich brauche… ein
Telefon oder… verstehen sie, weil die Krankheit so schwer ist, so schwer…“ Ihre
Hände ruderten hilflos. Ich konnte sehen, dass sie wirklich zitterten und es
gab auch blaue Flecken an den Fingerspitzen. Jedenfalls musste sie etwas haben.
„entschuldigen sie, ich kann nur
nicht… ich kann kein Telefon benutzen und auch keinen Computer… ich kann zwar
sprechen, aber nicht hören. Ich brauche. Ich will doch nur einen Termin haben.
Nur einen. Nur einmal mit dem Professor reden, der mir das angetan hat, nur
einmal…“
Das Eis war gebrochen und in
ihrer stockenden, hilflos suchenden Art erzählte sie mir ihre Geschichte.
Irgendeine Operation am Ohr, die schief gegangen war und viel Blut und
furchtbare Dinge hatte man ihr angetan und sie hatte nicht aufstehen dürfen.
Und jetzt war ihr Leben zerstört und sie hatte Epilepsie und Osteoporose und
Magersucht und konnte nicht mehr schlafen und ihr kleiner Hund war gestorben
und sie hatte alles verloren. Und als die Operation wiederholt werden sollte
war sie aus dem Krankenheus weggelaufen, zwei Mal.
Wie auch immer diese Dinge
zusammenhingen und einen oder auch keinen Sinn ergaben: Hilfe brauchte sie in
jedem Fall. Sei es, einen Zuhörer zu haben, einen Psychologen oder einen
Anwalt, um gegen einen pfuschenden Arzt zu klagen.
Und ich konnte nicht aufstehen
und gehen, bevor ich nicht meinen Teil dazu beigetragen hatte, denn sie hatte
mich erkannt und wenn ich es getan hätte, hätte ich sie zerbrochen.
Sie wusste ja schon, dass sie
Menschen nicht vertrauen konnte und Ärzten auch nicht.
Aber wenn man mir auch nicht
vertrauen konnte – wenn man mal einen erkannt hat – wem sollte man denn dann
noch vertrauen können und wo sollte man seine Hoffnung haben und sein Leben?
Ich ließ keinen Seufzer hören,
als ich an meine Handyrechnung dachte. Natürlich hatte ich ein Smartphone. Ich
konnte die Internetflatrate benutzen, aber nicht telefonieren, denn jeder Cent
mehr tat weh und ging an die Substanz.
Ich war noch nicht in den höheren
Abteilungen angekommen, in denen es auf solche Kleinigkeiten nicht mehr ankommt
und außer meinem guten Willen und dem gelegentlich aufflammenden Heimweh
verband mich nichts mit der Chefetage.
Ich holte also mein Telefon raus
und öffnete die Notizfunktion. Sie konnte nämlich wirklich nicht hören, was ich
sagte. Ob ich jetzt böse sei, fragte sie mich mit einer seltsamen Mischung aus
Vertrauen und Angst in der Stimme.
Ich war für sie zuständig.
Aber wenn ich nicht wollte und
sie mich verlor – …
Sie hatte mich erkannt.
Sie wusste es.
Ich schrieb ihr. „Was soll ich
tun? Was wollen sie tun? Anrufen? Oder eine Nachricht schicken?“
Ihr Lesen war zaghaft, zögerlich.
So, als müsse sie sich erst daran erinnern, dass es auch möglich war, dass
Worte an sie gerichtet wurden. Worte, die einen Sinn ergaben und nichts Böses
wollten.
Sie stammelte einige Antworten,
brach die Sätze immer wieder ab. Sie wollte doch nur einen Termin haben, nur
ein Mal…
Dann fiel ihr etwas ein und sie
suchte in ihrem Rucksack. Ein ordentlicher Rucksack von einer guten Marke. Ich
hatte auch mal so einen.
Überhaupt war sie sauber und
ordentlich gekleidet, auch ihr Gesicht war glatt und rein.
Sie hatte wirklich ein Problem.
Es war nicht ihre Schuld und sie hatte es nicht verdient, dass man sie
herumschubste und ihr nicht half. Aber dieses Nicht-Helfen haftete an ihr und
drückte sie schwerer zu Boden als alles andere, das ihr passiert war.
Der Arzt war doch zuerst nett
gewesen und hatte getan, als… Es hatte so ausgesehen, als sei er ein guter
Mensch…
Sie holte eine Visitenkarte
hervor.
Ich nahm sie. Es war wirklich von
einem Unfallkrankenhaus, wie sie gesagt hatte.
Es gab eine E-Mail-Adresse.
Ich rief mein E-Mail Programm
auf. Ich konnte mir die Antwort der Leute auf so eine Nachricht lebhaft
vorstellen. Was mir einfiele, mich in Angelegenheiten zu mischen… Außerdem sei
alles ganz anders; die Person sei verrückt und überhaupt habe der Professor
besseres zu tun oder vielleicht gäbe es auch gar keinen dieses Namens.
Es war aber nicht meine Aufgabe,
für diese Dinge zu sorgen.
„Sehr geehrte Damen und Herren“,
schrieb ich, „hiermit möchte ich für Luisa Lobor um einen Termin bei Prof. Dr.
Klein bitten.“ „Geht es?“ fragte sie hoffend, ängstlich.
Mir fiel etwas ein und ich
öffnete mein Kartenprogramm.
Denn wenn ich wegging – wie
sollte sie die Antwort jemals erreichen?
Es war klar, dass man nicht
sofort antworten würde. Wenn überhaupt.
Stattdessen gab ich die Adresse
ein, um danach zu suchen. „Es ist sehr weit und ich weiß nicht, wie ich da
hinkommen soll.“ Hatte sie gesagt.
Sie hatte immer weitergeredet und
das Weinen war noch etwas weiter an die Oberfläche gekommen. Während ich wartete,
schniefte sie ein bisschen. Ich nahm etwas von ihrem Kummer. Der Kummer war
echt und sie war darin so klein und elend, dass sie nicht einmal richtig weinen
konnte.
„Sind sie jetzt böse?“ fragte sie
wieder.
Ich schüttelte den Kopf.
Man hatte meine
Downloadgeschwindigkeit gesenkt und es lud und lud…
Es war tatsächlich weiter
draußen. Aber ich konnte den Namen der Station keiner S-Bahnlinie zuordnen und
musste warten.
Ich wechselte zur App des
öffentlichen Verkehrsnetzes, aber hier kam ich nicht mal halb so weit wie auf
der Karte.
„Funktioniert es?“ fragte sie.
Ich zeigte ihr die Fehlermeldung
auf dem Display.
Ich musste ihr etwas
aufschreiben.
Ich wollte aber das Programm nicht
schließen, denn ich brauchte die Angabe.
Sie verstand schließlich und gab
mir einen kleinen Block, aber ihr Stift –sie musste so danach suchen! – schrieb
nicht.
Neben uns saßen zwei junge
Mädchen und ich bat eine von ihnen, mir in dem Kosmetikgeschäft gegenüber einen
Stift zu holen.
„Und warum holen sie ihn nicht
selber?“ fragte sie. „Ich will meine Sachen hier nicht stehen lassen, weil ich
die Frau nicht kenne“, sagte ich, „sie hat mich nur um Hilfe gebeten.“ Was ich
nicht sagte war, dass sie auch nicht verstehen würde, wenn ich auf einmal
aufstand. Ich konnte auch gar nicht aufstehen, weil ihre Hilflosigkeit mich
fesselte.
Das Mädchen ging los und es
klappte. „Der Mann hat gesagt, sie können den behalten.“ „Danke dir. Vielen
Dank.“ Ich schenkte ihm mein bestes Lächeln, aber die ganze Sache war ihr
trotzdem einfach zu dubios.
Ich schrieb. „Das Gerät hat keine
Verbindung, um einen Termin zu machen, aber es zeigt den Weg.“ Sie las
angestrengt. Langsam, ängstlich und zögernd. „Geht nicht? Vielleicht später?“
Ich unterstrich die Worte: „es zeigt den Weg“. „Termin?“
Ich ging zurück zum
Kartenprogramm und diesmal zeigte es tatsächlich den Weg mit Bahnlinien und
Fahrtzeiten an. Diesmal gab ich mir Mühe, ordentlicher zu schreiben. „Von
Gesundbrunnen in die Linie… bis … Umsteigen in die Linie… nach… in…
aussteigen.“
Ich blätterte, denn die Seite war
damit voll. „An der Anmeldung fragen.“
Jedes Krankenhaus hat eine
Anmeldung.
„Aber wie komme ich da hin? Ich
habe kein Auto.“
Deshalb also war ich die ganze
Woche schwarzgefahren und hatte mir meine letzten vier Fahrkarten aufgespart.
Ich gab ihr eine von ihnen und
zeigte auf das S-Bahn-Symbol. Dann ging mein Stift die Angaben noch einmal
durch. „Mit der S-Bahn“, erkannte sie. Ich nickte und wies noch einmal auf die
Nummern der Linien und auf die Umsteigebahnhöfe. „Termin?“ Fragte sie. Ich
schrieb in Druckbuchstaben auf die Rückseite der Visitenkarte. „Beim Pförtner
fragen und Warten.“ „Wann? Termin?“ Ich machte einen Pfeil und schrieb.
„Einfach warten.“
„Aber das ist ihre“, sagte sie zu
der Fahrkarte. Ich bedeutete ihr, sie zu behalten und auch den Stift. „Das kann
ich nicht annehmen.“ Es war die verschüchterte Demut eines Menschen, den man
künstlich klein gemacht hat.
Wie oft hatte man ihr gesagt,
dass ihr dieses und jenes nicht zustünde?
Ich schrieb noch einmal. „Sie
müssen mit der S-Bahn hinfahren. Sie brauchen den Stift.“ Ich wollte ihn ihr in
die Hand drücken, aber da war gerade so Platz für den Block und die Fahrkarte
und er fiel zu Boden. „Das ist ihr Stift.“ Ich schrieb. „Ein Geschenk!!!“
Sie lächelte und bedankte sich.
Es machte ihr ein bisschen Angst, so auf den Weg geschickt zu werden, aber sie
wusste, dass ich getan hatte, was ich konnte.
Es gäbe keine guten Menschen mehr
aber ich wäre gut… Ich weiß nicht mehr, was sie noch alles sagte, es war so
viel. Ich sollte Glück haben und mir sollte alles gelingen… Ach, ich weiß es
nicht mehr!
Ich drückte ihr die Hand.
Ich war etwas bange um sie und
den Weg, den sie nun vor sich hatte, aber so ist das nun Mal:
Wenn man einen Engel um Hilfe
bittet, erwirbt man eine Verpflichtung, es mit dem, was man bekommt, auch zu
versuchen.
S. Reh November 2012
S. Reh November 2012
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